Migrationshintergrund & Demenz – erste Ergebnisse aktueller Angehörigenbefragung

Geschrieben von Klaus Büttner.

demenz altmannDemenz in Familien mit Migrationshintergrund wird zu einer großen sozialen Herausforderung. Die Beziehung zwischen Angehörigen und deutschen Institutionen ist bisher oft holperig und voller Missverständnisse. In der Mehrzahl der Fälle wird die Sorge für Betroffene von Familienangehörigen wahrgenommen. Wenig überraschend sind es meistens die Frauen, die diese Aufgabe übernehmen. Der Blick auf die Demenz und ihre Ursachen steht manchmal in Spannung zu schulmedizinischen Diagnosen. Daraus ergibt sich bisweilen ein anderer Blick auf Demenz, Belastungen und den Schmerz. Das sind Ergebnisse einer von der Robert Bosch Stiftung geförderten Studie, die von der bundesweiten Initiative Aktion Demenz e.V. mit Unterstützung des Instituts für Soziologie der Universität Giessen durchgeführt wurde.

 

17 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Nie zuvor war ihr Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung größer, und ihre Zahl wird in den kommenden Jahren zunehmen. In Deutschland ist seit einiger Zeit die Frage nach dem, was uns ‚zusammenhält’, auf dem Tisch. Insofern skizziert der fragende Blick auf „Migration und Demenz“ ein Zukunftsthema, das die Humanität der deutschen Gesellschaft und ihren innergesellschaftlichen Frieden berührt. Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland älter, und auch in ihren Familien gibt es Demenz. Aber bisher ist wenig bekannt über die Frage, wie Menschen mit Demenz in Migrationsfamilien leben? Wie wird das Phänomen Demenz dort verstanden? Welche Rolle spielen traditionelle Orientierungen? Werden Dienstleistungen in Anspruch genommen? Gibt es besondere Notlagen? Um diesen Fragen nachzugehen wurde mit Angehörigen von Menschen mit Demenz gesprochen. Das Forschungsteam, bestehend aus Professor Reimer Gronemeyer, Jonas Metzger, Verena Rothe und Oliver Schultz, führte 22 Gespräche mit Angehörigen in Deutschland und in der Türkei, sowie 4 Gespräche mit Experten. „Die Gespräche waren geprägt von Gastfreundlichkeit, von einer bemerkenswerten Nachdenklichkeit, von bewegender Sensibilität, aber auch von großem Schmerz und dem berührenden Leid der Betroffenen“, berichten die Forschenden. Die Familie wird als Basis des Sich-Kümmerns deutlich. Aber Zusammenhalt und Selbstverständlichkeiten der Sorge innerhalb der Familie werden brüchiger. Jüngere Angehörige haben teils abweichende Vorstellungen. Die Zahl alleinlebender Älterer wird mit größter Wahrscheinlichkeit zunehmen. Mangelnde Sprachkenntnisse und mangelnde Kenntnis der Dienstleistungsangebote führen dazu, dass Migrantinnen und Migranten ihre Ansprüche oft nicht durchsetzen können. Eine auf Demenz ausgerichtete Prävention spielt für sie nur eine geringe Rolle. Migrantinnen und Migranten nehmen gerne Unterstützung bei der Versorgung von Menschen mit Demenz an. Entscheidend ist aber weniger eine optimale Versorgung als vielmehr das gute Verhältnis zwischen Angehörigen und Betroffenen. Die Pflege wird vorrangig als Aufgabe der Frauen angesehen. Während die Bereitschaft zur Übernahme der Pflegeverantwortung bei Frauen immer noch als selbstverständlich vorausgesetzt wird, wird dies von Männern meist gar nicht erwartet. Die Fragen nach einem guten Leben und Sterben mit Demenz sind oft mit Überlegungen zur Religiosität verknüpft. Diese Überlegungen stehen in Spannung zu modernen Vorstellungen vom selbstbestimmten Leben. Auf die Frage danach, wie sie sich Demenz erklären, antworten Migrantinnen und Migranten häufig in Anlehnung an das biomedizinische Erklärungsmodell der modernen westlichen Medizin. Immer wieder aber scheinen andere Erklärungs-versuche auf, die für den Alltag und für die innere Haltung der sorgenden Angehörigen von großer Bedeutung sind. Diese stehen quer zur medizinischen Sicht auf die Demenz. Dank dieser anderen Sichtweisen kommt eine Auffassung von Demenz zum Ausdruck, die unsere moderne westliche Perspektive grundlegend erweitern kann.