Flammendes Licht

Geschrieben von Redaktion.

flammendes lichtEine Geschichte zu Weihnachten von  Ludger Pötter

Sein Blick glitt hinauf. Hinauf zu den Wolken. Ja die Wolken, - sie zogen schnell. Sehr schnell. - Zu schnell!
Er stürzte auf sein Haus zu, stieß die Haustür auf, und eilte zum Kamin. Mit zitternder Hand hielt er einen Holzspan an die Flammen. Damit entzündete er den Docht in einem Windlicht. 
Rasch begab er sich zur Mitte des Raumes. Mit einem gezielten Tritt schleuderte er einen Flickenteppich zur Seite. Darunter verbarg sich eine hölzerne Klappe.
Beim Öffnen gab sie ein quietschendes Stöhnen von sich.
Mit dem Windlicht in der Hand stieg er eine schmale steinerne Treppe hinab und verschloss die Luke über sich. Unten setzte sich der hagere Mann auf ein Butterfass. Seine fahle Haut spannte sich über den knochigen Schädel.
Wie von stählernen Pflugscharen eingeritzte Furchen zogen sich die Falten durch sein Gesicht.
Er hieß Imarius und lebte in diesem kleinen Haus, weit entfernt vom Dorf. Den Kontakt zu den Leuten in dem kleinen Ort mied er, wo es eben möglich war. Sie nannten ihn einen komischen Kauz, einen Eigenbrötler. Imarius  liebte die Natur und beobachtete gern das Spiel der Wolken. Deshalb hatte er sofort erkannt was gleich geschehen würde.Ehrfürchtig betrachtete er die kleine Flamme, wie sie mit Leichtigkeit hin und her zuckte und Schatten über die kargen Kellerwände huschen ließ.

„Flammendes Licht”, murmelte er.

Ja Flammendes Licht nannten sie es. Es war den Dorfbewohnern vor Jahrhunderten geschenkt worden. Eines Nachts hatte der Blitz in einem Wacholderbusch eingeschlagen. Dieser hatte lichterloh gebrannt und die Menschen aus der Nähe waren gekommen, um Fackeln anzuzünden. Das flammende Licht hatten sie heimgetragen, es gehütet und weitergegeben, über Jahre, Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte. Niemand in diesem Land vermochte es selbst Feuer zu machen. Die Menschen hatten es nie gelernt, und sie brauchten es auch nicht. Das Feuer wurde immer weitergereicht.
Als Imarius dort unten in seinem Keller hockte, setzte ein Sturm ein. Gleichzeitig begann es zu schneien. Das Schneegestöber sauste um die Ecken des Hauses. Es wurde heftiger. Die Blendläden klapperten. Ein gewaltiger Schneesturm fegte über das Land hinweg. So etwas hatte er noch nie erlebt. Der Sturm drückte gegen die Fenster der Häuser, bis sie aufsprangen. Wirbelte durch die Räume und löschte  sämtliche Lichter. Im ganzen Land. Nur eines nicht.

Und das war das Licht des Imarius.

Die kleine Flamme in seinem Windlicht. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, stieg Imarius wieder empor. Er schloss die Fenster, fegte den Schnee aus dem Haus und entzündete sein Herdfeuer an der Flamme des Windlichtes.
Plötzlich klopfte es an seiner Haustür. Imarius schreckte auf, ging zur Tür, öffnete aber nicht. Es klopfte ein zweites Mal und eine Stimme ertönte, „Imarius bei dir brennt ja noch Licht. Darf ich mein Windlicht daran entzünden?”, fragte Thalita, eine Frau aus dem Dorf.
„Nein!”, stieß er schroff hervor  „Das ist mein Licht!”
„Aber Imarius”, sagte Thalita freundlich. „Die Leute im Dorf frieren. Ihre Kamine sind erloschen. Wir sitzen alle im Dunklen. Niemand wird dir dein Licht wegnehmen. Ich möchte nur meine Leuchte an deinen Flammen anzünden.” 
„Nein!”, rief Imarius, „und jetzt geh!” 
Thalita ging. Imarius wartete einige Zeit, dann öffnete er die Tür. Tiefe Spuren zogen sich durch den Schnee. Flocken tanzten zu Boden. Auf der Treppenstufe bemerkte er etwas Rotes. Imarius beugte sich hinab und hob es auf. Es war ein Glas Marmelade.

„Erdbeermarmelade!”, rief Imarius begeistert.

Er nahm sie mit ins Haus. Doch dann wurde er nachdenklich. Argwohn stieg in ihm auf. Warum brachte Thalita ihm Erdbeermarmelade mit? Woher wusste sie überhaupt, dass er so gern Erdbeermarmelade aß? Er stellte das Glas auf ein Regal in die Küche. Warum? Warum brachte sie ihm die Marmelade, wo sie doch selber kaum zu essen hatte? , grübelte er, während er das Glas betrachtete. Warum gab sie etwas ab?  Das verstand er nicht.
Am Abend des folgenden Tages nahm er die Marmelade vom Regal, öffnete das Glas, strich sie dick aufs Brot und ließ es sich schmecken. Thalita ist nicht dumm, überlegte er erneut. Sie wird einen Grund haben, etwas zu verschenken. Vielleicht steckt ja ein Sinn darin, etwas abzugeben, jemanden zu beschenken. Er beschloss, dieses noch am selben Abend zu ergründen.
Er nahm sein Windlicht, entzündete es am Kamin und stapfte durch den hohen Schnee ins Dorf. Nach einer Weile klopfte er an Thalitas Haustür. Sogleich vernahm er eilige Schritte.
Thalita öffnete und empfing ihn mit einem Lächeln das heller leuchtete als sein Licht. „Oh du bis extra ins Dorf gelaufen. Das ist sehr nett von dir.“ Ihr Gesicht strahlte nur so vor Freude.
Ohne ein Wort zu sagen, hielt ihr Imarius das Windlicht vor die Nase. Eilig holte sie ihre eigene Lampe. Sie entzündete einen Holzspan an seiner Flamme und führte  ihn zum Docht ihrer Laterne.
Abrupt drehte er sich um und ging davon.
„Danke Imarius“, rief sie ihm nach. 
Thalita gab das Licht sogleich an ihre Nachbarn weiter und diese wiederum an ihre Nachbarn bis aus allen Fenstern des Dorfes Licht schimmerte. Imarius begab sich auf den Heimweg.
Als er an einer Anhöhe vorbeikam stieg er hinauf und lehnte sich an den Stamm einer mächtigen Eiche. Er ließ seinen Blick über das Dorf schweifen. Dort funkelte und glitzerte es. Schornsteine pusteten weißen Rauch in die Luft. Imarius betrachtete sein Windlicht. „Flammendes Licht“, murmelte er. „Wie diese  kleine Flamme ein ganzes Dorf zum Leuchten bringen kann, das ist wirklich beeindruckend.“
Doch dabei würde es nicht bleiben … „Von diesem Dorf wird das Licht ins nächste und ins übernächste weitergegeben, bis das ganze Land leuchtet“, hauchte er leise in die Winterlandschaft hinein.
„Und sämtliches Licht stammt von dieser kleinen Flamme, und dabei hat sie weder an Größe noch an Schönheit verloren.“
Imarius spürte etwas in sich aufsteigen, das er bisher noch nicht gekannt hatte.Er fühlte eine wunderbare Leichtigkeit, eine Freude die ihn lächeln ließ und einen tiefen inneren Frieden. Beschwingt ging er heim.
Es dauerte nicht lang, da klopfte es an seiner Haustür. Imarius öffnete sie.
Foto: Jonny Lindner / Pixabay